Virtuelle Events und Formate gehören seit knapp einem Jahr zu unserem Alltag. Mittlerweile sind wir auch schon deutlich schlauer. Doch wieviel wissen wir tatsächlich über das Erlebnis und die Erlebnisqualität vor dem Bildschirm? Wissenschaftliche Studien gibt es noch keine. Derzeit basieren Erkenntnisse stark auf subjektiven und nicht selten sehr emotionalen Meinungen. Um eine wissenschaftliche Perspektive einzubringen, habe ich mit Prof. Jan Drengner von der Hochschule Worms gesprochen. Er beschäftigt sich seit 20 Jahren mit Events, und seit circa 5 Jahren mit digitalen Erlebnisformen, wie unter anderem Apps und Virtual Reality. Seinem Eindruck nach haben Online-Events eindeutige Vorteile und werden bleiben. Doch das aus seiner Sicht viel größere Probleme ist, dass wir derzeit noch gar nicht wissen, wie virtuelle Events zuhause tatsächlich funktionieren.
Die COVID-19 Pandemie feiert derzeit ein bedrückendes Jubiläum: schon ein Jahr hält uns das Virus in Atem! Neben all den negativen Nachrichten und Problemen konnten wir aber auch viel lernen, wurden überrascht und von neuen Ideen fasziniert. Wir haben das zum Anlass genommen, verschiedene Menschen aus der Live-Kommunikation nach ihren Erfahrungen, Einschätzungen und Aussichten zu fragen.
Gespräch mit Prof. Jan Drengner über virtuelle Events aus wissenschaftlicher Perspektive
Da es noch keine wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema Online-Events gibt, kann natürlich auch Prof. Drengner keine Antworten liefern. Jedoch hat er seine eigenen Forschungen zur Erlebnisqualität mit bestehenden Studien über digitiale Erlebnisformen verknüpft und sich virtuellen Events mithilfe theoretischer Grundlagen genähert. So hat er interessante Fragen aufgeworfen, die uns bei der Konzeption helfen können.
Welches sind die zentralen Erlebnis-Stimuli eines Online-Events?
Zunächst stellt sich für Jan Drengner die zentrale Frage: Welche Faktoren formen ein virtuelles Event? Natürlich ist da als erstes eine gestaltete Konferenz, ein interaktiver Workshop oder ein gestreamtes Konzert. Wir beschäftigen uns bereits viel mit Stimuli im Rahmen der Konzeption. „Doch dabei dürfen wir nicht das reale Umfeld der Teilnehmenden vergessen“, so Drengner. Gemeint sind das Büro oder Wohnzimmer oder die im Hintergrund herumturnenden Kinder. Eine Vielzahl an Stimuli, die man kaum beeinflussen oder überhaupt einschätzen kann, die aber auch des Erleben der Konsumierenden – neben dem virtuellen Event – prägen können.
Doch das bedeutet keineswegs, dass ein „Eintauchen“ in ein virtuelles Erlebnis generell nicht möglich ist, betont Drengner. Das Beispiel eines Films vor dem heimischen Fernseher zeigt durchaus, dass man auch zuhause die Umgebungsrealität zeitweise vergessen kann. Hierbei spielen jedoch auch Aspekte mit wie unter anderem der richtige Zeitpunkt, an dem das Umfeld vielleicht etwas ruhiger ist. Aber auch möglicherweise die Dunkelheit am Abend. VeranstalterInnen versuchen dies bereits zu berücksichtigen, indem sie bewusste Uhrzeiten wählen, in denen sie sich ein ruhigeres Umfeld erhoffen. Aber ob dies tatsächlich so funktioniert, vor allem da noch keine idealen Zeitpunkte für virtuelle Events sozialisiert sind, wissen wir nicht.
Hier gibt es noch viele offene Fragen. Welche Stimuli beeinflussen die Menschen wie stark? Was lässt Teilnehmende tatsächlich in ein Online-Event eintauchen? Welchen Einfluss hat die Anreicherung durch veranstaltungsspezifische Bestandteile wie ein reales Catering oder Fanbekleidung auf die Erlebnisqualität?
Was machen die Menschen zuhause?
Ein weiteres interessantes Feld ist für Jan Drengner das Verhalten der Menschen vor dem Bildschirm. „Bei Veranstaltungen gibt es typische Verhaltensweisen wie beispielsweise das Mitsingen, Klatschen oder Tanzen. Neben den Inhalten der Veranstaltung sind solche Praktiken wichtige Bestandteile eines Erlebnisses – in manchen Fällen sind sie sogar Kern des Erlebnisses. Aber was machen die Menschen bei einem digitalen Event?“
Abgesehen von kontraproduktiven Verhaltensweisen wie gleichzeitig E-Mails lesen oder den Schreibtisch aufräumen, geht es hierbei um Praktiken, die mit dem Event zu tun haben. Beispielsweise hat Prof. Drengner in den Sozialen Medien beobachtet wie ZuschauerInnen kleine Privatparties während eines Livestreams veranstalten. Es gibt auch schon Ansätze bei denen EventplanerInnen versuchen das Verhalten der Teilnehmenden zu beeinflussen: Die VeranstalterInnen des Wacken Festivals schlugen zum Livestream beispielsweise ein „traditionelles“ Schlammbad – nur diesmal in der Badewanne – vor. Andere verschicken vorab Pakete mit Gegenständen, Lebensmitteln und ggf. Handlungsanleitungen, die mit dem Event verknüpft sind. Solche Beispiele zeigen, dass in manchen Fällen Praktiken der Präsenzveranstaltungen imitiert werden.
Allerdings können wir uns nicht sicher sein, dass das tatsächlich eine gute Idee ist. Schließlich könnten solche realen Ergänzungen auch vom eigentlichen Erlebnis ablenken oder gar stören. Wenn die Zubereitung einer Speise beispielsweise Probleme bereitet.
Wie die Menschen ein Online-Event zuhause erleben, wie sie sich verhalten und ihr Umfeld gestalten, wissen wir nicht. „Dabei ist das eine wichtige und interessante Frage, da es das Erlebnis mitgestaltet. Interessant ist auch, ob sich künftig neue digitale Praktiken entwickeln werden, welche herkömmlichen Praktiken adaptiert, welche womöglicherweise an Bedeutung verlieren oder verschwinden werden und wie diese Praktiken die Erlebnisqualität beeinflussen.“
Welche Erlebniskomponenten gibt es?
Bei jedem Event gibt es verschiedene Komponenten, die das Erlebnis beeinflussen. Beispielsweise sensorische Faktoren, aber auch die Atmosphäre, die Interaktion, das Gefühl etwas gelernt oder Freude gehabt zu haben. Bei analogen Events, aber auch bei Virtual Reality können wir schon mehr darüber sagen. Doch welche zentralen Erlebniskomponenten gibt es bei virtuellen Events? Welche Faktoren beeinflussen die Akzeptanz virtueller Veranstaltungen und wie lassen sich diese Faktoren beeinflussen? Professor Drengner hat sich zunächst Erlebniskomponenten anderer Formate angeschaut und sie mit den Möglichkeiten digitaler Veranstaltungen verglichen.
Da sind zum einen die sensorischen Faktoren. Diese Möglichkeiten sind bei Online-Events derzeit noch deutlich begrenzter als z.B. bei analogen Events. „Doch die wichtigere Frage ist, welche sensorischen Faktoren sind beim jeweiligen Event wichtig„, so Drengner. Bei einer Konferenz kann man zugunsten guter Vorträge, der unnötigen Anreise und einem günstigeren Preis vielleicht gut darauf verzichten. Ein Foodtruck-Festival hat es dagegen schon schwerer, auch wenn es mittlerweile Ideen wie Pakete für zuhause gibt.
Einer der laut Drengner vermutlich schwierigsten Faktoren ist die Atmosphäre unter TeilnehmerInnen. „Für Effekte wie ‚ansteckende Emotionen‘ müssen andere Teilnehmende und ihre Emotionen sichtbar sein. Das ist bedingt möglich, aber nicht so hautnah wie bei einem Live-Event.“ Hier begrenzen die technischen Möglichkeiten die notwendige Qualität. Wobei auch dabei offen bleibt, ob sich noch Strategien entwickeln werden, die kollektive Emotionen fördern, beispielsweise mithilfe von Avataren.
Der Aspekt der „Interaktion“ ist natürlich auch bei virtuellen Events möglich. Allerdings beobachtet Prof. Drengner bewusste und unbewusste Beschränkungen, die den Menschen durchaus auffallen: beispielsweise ist nicht alles vom Gegenüber sichtbar (Kleidung, Körpersprache etc.), es kann Zeitverzögerungen geben oder die Menschen schauen sich nicht direkt in die Augen. Zudem führt der Austausch am Bildschirm zu einer Art „Zoom-Fatigue“. All das könnte in Zukunft technologisch verbessert werden, aber noch stellt es uns vor einige Fragen: Wie stark beeinflussen solche Einschränkungen die Erlebnisqualität von Interaktion? Welche oder wieviele dieser Komponenten könnten ausreichen, um eine angenehme oder zielführende Interaktion zu fördern?
Fazit und Ratschläge
Derzeit fischen wir noch im Trüben und übertragen analoge Ansätze in digitale Formate und Konzepte, so Drengner zum aktuellen Stand aus wissenschaftlicher Sicht. Es werden mehr oder weniger kreative Angebote gemacht, aber noch wissen wir nicht, wie Erlebnisse zuhause tatsächlich funktionieren.
„Mit welchen technischen Elementen, z.B. Qualität der Benutzeroberfläche, Interaktions-Tools, Einsatz von Avataren oder Virtual Reality, mit welchen Konzepten wie z.B. Storytelling oder Gamification, lassen sich die Erlebnisqualität und damit die Wertstiftung erfolgsversprechend beeinflussen? Wie wirken sich im Rahmen von virtuellen Marketing-Events und Messen die Einschränkungen hinsichtlich der Erlebnisqualität auf die beabsichtigten Kommunikationswirkungen aus?“ Wenn wir die Menschen, ihre Verhaltensweisen und die jeweiligen Wirkungsweisen besser verstanden haben, werden auch weitere Ideen und Konzepte folgen.
VeranstalterInnen rät er bis dahin sich stets die zentrale Frage zu stellen: Was braucht meine digitale Veranstaltung überhaupt? „Brauchen wir zum Beispiel nachgebaute, virtuelle Konferenzlocations? Es gehen wohl die wenigsten Menschen zu einer Konferenz, um eine Location zu sehen, sondern um Inhalte zu erleben oder Kontakte zu knüpfen.“
Wichtig ist Jan Drengner auch, dass es je nach Format ganz unterschiedliche Bedürfnisse gibt. Wie wichtig sind welche Bestandteile für das jeweilige virtuelle Event? Für extrinsisch motivierte Veranstaltungen, z.B. Konferenzen, bei denen es darum geht Wissen zu generieren, sind andere Aspekte zentral als für intrinsisch motivierte Events, bei denen das „Dortsein“ an sich das Erlebnis ist.
Viele Menschen aus der Live-Kommunikation betonen, dass bei virtuellen Events der direkte Kontakt und die sensorischen Komponenten fehlen – und sie deswegen grundsätzlich schlechtere Erlebnisse sind. Das lässt sich für Prof. Drengner pauschal so nicht sagen und auf alle Formate und Teilnehmende übertragen. „Es gibt in manchen Fällen Vorteile, für die man das persönliche Treffen oder andere Abstriche in Kauf nehmen wird, wenn das digitale Angebot andere Interessen zufriedenstellend erfüllt. Digitale Events können für alle effizienter, ohne Anreise, Anreisekosten und nachhaltiger gestaltet werden. Sie erfüllen derzeit auch wichtige Aspekte wie Gesundheitsschutz und haben eine stärkere Mehrwert-Orientierung. Inhalte und Materialien werden gespeichert und können später abgerufen werden. Digitale Events haben eindeutige Vorteile. Wenn dann zum Beispiel die Vorträge richtig gut sind und das Ticket vielleicht etwas günstiger ist, wird es Fälle geben, in denen die Abstriche akzeptabel sind oder gar nicht als solche empfunden werden. In anderen Fällen werden Live-Events aber natürlich auch nicht ersetzbar sein, weil sie Kern des Erlebnisses oder den Menschen wichtig sind.“
Seiner Meinung nach werden virtuelle Events auf jeden Fall bleiben. Nicht in allen Fällen, aber es wird VeranstalterInnen geben, die online andere oder mehr Menschen erreichen möchten und werden. Ob mit rein digitalen oder hybriden Formaten. Gespannt ist er vielmehr, wie unter anderem hybride Formate künftig aussehen werden. Werden sie digital und analog parallel oder nacheinander stattfinden? Werden sie auch die Menschen parallel miteinander verknüpfen und wenn ja wie? Beispielsweise über gemeinsame Workshops? Wie ist es möglich aus einem „Nebeneinander“ ein „Miteinander“ zu schaffen?
Aus wissenschaftlicher Sicht existieren also noch sehr viele offene Fragen zum Thema virtuelle Events! Scheinbar wird es auch einige Zeit dauern, bis wir fundierte Antworten darauf bekommen. Denn auch Prof. Jan Drengner ist zum jetzigen Zeitpunkt noch keine geplante Studie bekannt, die sich diesem Thema widmet.
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